Ungehorsam als Christenpflicht?
29. Mai 2021
Recht ist nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit. Das alte ethische Problem des Verhältnisses zwischen Recht und Gerechtigkeit beschäftigte schon Cicero, der im 1. JH vor Christi Geburt befand: Summum ius summa iniuria, das gesamte Recht ist oft das höchste Unrecht. Gerade in Deutschland haben wir das in der jüngeren Geschichte mit dem Nationalsozialismus sehr schmerzhaft erfahren.
Was für das staatliche Recht gilt, gilt natürlich auch für das Kirchenrecht. Heute stellen viele Katholiken zunehmend Fragen nach der Gerechtigkeit des Kirchenrechts. Im Vordergrund steht die kirchenrechtliche Ungleichbehandlung der Frauen insbesondere durch Versagung der Priesterweihe, welche sie als Spenderinnen der Sakramente ausschliesst, oder durch das Verbot, während der Eucharistiefeier zu predigen, die Homilie zu halten.
Aber auch weitere Verbote wie die Untersagung der Segnung homosexueller Paare, der Kommunionspende an Wiederverheiratete oder nichtkatholische Christen sorgen für Zweifel an den kirchenrechtlichen Normen. Homosexuelle Partnerschaft, Verhütung, Abtreibung und Zölibat sind zusätzliche Reizthemen. So reiben sich viele Seelsorger und Lehrverantwortliche (im Kommunion- und Religionsunterricht, in der Predigt, in der Lehre an Hochschulen etc.) täglich an den Vorgaben des kirchlichen Lehramts auf.
Gerechtigkeit. Fresko von Raffael im Vatikan, 1508
Für Katholiken stellt sich daher immer häufiger und drängender die Frage: 1. Bindet mich das Kirchenrecht oder darf bzw. soll ich mich über Kirchenrecht hinwegsetzen, das ich für ungerecht erachte? 2. Anhand welcher Kriterien kann ich ermitteln, ob ich ein solches Kirchenrecht missachten darf?
1. Darf ich mich über Kirchenrecht hinweg setzen, das ich für ungerecht erachte?
Die moralphilosophischen und -theologischen Antworten auf die Frage verweisen auf das menschliche Gewissen als Entscheidungsinstanz. Mit der Anerkennung seiner Autonomie, die als Gewissensfreiheit bezeichnet wird, hat sich die katholische Kirche in ihrer autoritären Tradition lange schwergetan. Trotz der Befürwortung schon durch Thomas von Aquin hat sich erst das II. Vatikanum 1965 dazu durchgerungen, die Gewissensfreiheit grundsätzlich zu akzeptieren (Gaudium et spes Nr. 16).
Der Katechismus der katholischen Kirche von 1993 hat diese Lehre umgesetzt. Er betont, dass das Gewissen lebenslang anhand des Wortes Gottes gebildet und geformt werden muss, damit ein richtiges Urteil abgegeben werden kann (Nr. 1783-1785). Das Gewissen kann richtig urteilen, wenn es in Übereinstimmung mit der Vernunft und dem göttlichen Gesetz ist, oder irren, falls es sich an beides nicht hält (Nr. 1786). Der Mensch muss auch einem irrigen Gewissen folgen, wenn er sich um die rechte Gewissensbildung bemüht hat (Katechismus Nr. 1793).
Der entscheidende moraltheologische Meilenstein ist die Anerkennung des Irrtums. Damit wird ein Handeln im Dissens zur Obrigkeit nicht als unmoralisch verworfen, was natürlich Sanktionen wegen seiner Rechtswidrigkeit nicht ausschliesst. Der Irrtum kann allerdings auf zwei Seiten auftreten: Auf der Seite des Normadressaten, der dem Kirchenrecht folgen soll, oder auf Seiten des Normgebers, des kirchlichen Lehramtes. Schliesslich wird das Kirchenrecht, das mit Vernunft und göttlichem Recht übereinstimmen soll, auch nur von Menschen gesetzt, die fehlbar sind. Das zeigt die Kirchengeschichte, die viele Beispiele für Irrtümer des Lehramtes kennt. Die Bibel drückt dies so aus: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5, 29).
Im Ergebnis kann es also sehr wohl statthaft oder sogar geboten sein, gegen kirchenrechtliche Verbote zu verstossen. Aber das Gewissen ist kein Freifahrtschein für eine beliebige Normverweigerung. Vielmehr wird nicht nur die im Katechismus erwähnte Gewissensbildung vorausgesetzt, sondern auch eine gründliche Gewissensprüfung, bevor ich mich dem Kirchenrecht aus Gewissensgründen verweigere.
Auf eine solche Gewissensprüfung hat sich Luther berufen, als er den Widerruf seiner Lehre verweigerte (oft zitiert als „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“). Ähnlich hat sich Anfang 2021 Kardinal Woelki in Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal geäussert: „Ich habe mein Gewissen geprüft, und ich bin persönlich der Überzeugung, dass ich mich korrekt verhalten habe“.
2. Anhand welcher Kriterien kann ich ermitteln, ob ich Kirchenrecht aus Gewissensgründen missachten darf?
Ganz allgemein gehört zur Gewissensprüfung, bei der Entscheidung nicht nur auf sich selbst zu schauen, sondern vernunftgeleitet die objektive Perspektive der Mitmenschen und der Gemeinschaft einzunehmen. Aber was bedeutet das konkret? Die älteste eingehende Auseinandersetzung mit dieser Frage stammt von Platon und ist selbst nach über 2400 Jahren noch moralphilosophisch bedeutsam.
Platon lässt in seinem Dialog „Kriton“ den verurteilten Philosophen Sokrates darüber diskutieren, ob er aus der Haft fliehen oder das Todesurteil annehmen soll. Sokrates trifft seine Entscheidung, den Gesetzen zu folgen und in den Tod zu gehen, anhand dreier Kriterien. Erstens fragt er, ob sein Normverstoss nachteilige Folgen für die Gemeinschaft hätte, z.B. deren Zerrüttung oder Niedergang. Zweitens könnte seine Unbotmässigkeit gegen eine freiwilllig eingegangene Verpflichtung verstossen. Und Drittens könnte es unfair gegenüber der Gemeinschaft sein, das Gesetz zu brechen, weil man quasi als Trittbrettfahrer nur das persönlich Vorteilhafte mitnehmen möchte.
Bei Verstössen gegen das Kirchenrecht dürfte das dritte Kriterium grundsätzlich nicht einschlägig sein. Zwar wird beispielsweise beim Ringen um die Gleichstellung der Frauen diesen oft persönliches Machtstreben vorgeworfen. Aber dies greift zu kurz und scheint eine männliche Projektion zu sein: Denn den Frauen geht es um generelle Gerechtigkeit, nicht um persönliche Macht oder andere Vorteile.
Interessanter ist die Argumentation hinsichtlich des zweiten Kriteriums. Da die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche freiwillig ist, habe man ihren Regeln und damit auch dem Kirchenrecht zugestimmt, könnte man argumentieren. Andernfalls könne man ja gehen. „Werde doch evangelisch“, wird man belehrt. Doch so einfach ist es nicht. Ein Land, dessen Gesetze man verwirft, kann man verlassen. Aber seinen Glauben? Ist die Mitgliedschaft in der Kirche so verfüg- und wechselbar wie der Wohnort oder eine Vereinsmitgliedschaft? Nein, der Glaube ist persönlich unverfügbar und legt damit die daraus resultierende Glaubensgemeinschaft fest. Für viele gibt es keine alternative Gemeinschaft für ihren persönlichen Glauben. Das machen auch diejenigen Katholiken deutlich, die austreten und sagen: Ich bleibe katholisch, auch ohne diese Kirche.
Beim ersten Kriterium geht es um die schlechten Folgen für die Kirche durch eine mögliche Gesetzesmissachtung, z.B. der mögliche Verfall der kirchlichen Ordnung infolge des Ungehorsams. Dies ist ein ernster Einwand. Betrachten wir die Situation der katholischen Kirche in Deutschland. Zumindest hier leben wir in einer Zeit massenhafter Kirchenaustritte, die Folge nicht akzeptierter kirchenrechtlicher Normen sind. Das führt zu der Frage, ob nicht das Kirchenrecht selbst zur Zerrüttung der Kirche führt. Dann wären Zuwiderhandlungen eher positiv zu sehen: Sie würden das System stabilisieren, indem sie Austritte verminderten und zugleich den innersystemischen Anstoss gäben, das Kirchenrecht zu überdenken und zu korrigieren. Dann wären Zuwiderhandlungen nicht als schädlich, sondern als nützlich für die Kirche zu bewerten, weil sie die kirchliche Zerrüttung, den kirchlichen Zerfall minderten. Aber könnte dadurch nicht ein Spaltungsrisiko entstehen? Dagegen spricht, dass das Spaltungsrisiko bereits in der Ablehnung des Kirchenrechts als ungerecht angelegt ist. Der Ungehorsam wäre dann nur der besonders augenfällige Ausdruck für das bereits vorhandene Spaltungspotential und würde selbst nicht weiter zur Zerrüttung der Kirche beitragen.
Summa summarum: Ja, Ungehorsam kann eine Christenpflicht sein. Aber er erfordert möglicherweise Mut, da er mit negativen persönlichen Konsequenzen verbunden sein kann. Das ist der Preis der Gewissensfreiheit.
Nachtrag: Auch Papst Franziskus sieht das so – in den Vaticannews vom 10.11.2022.