Vatikanische Synodalität: aufrichtig?

14. Oktober 2024

Der Theologe Thomas Söding schreibt während der Bischofssynode 2024 in Rom einen Synodenblog für das Zentralkommitee der deutschen Katholiken (ZdK). Unter „Synode mit Söding“ (SMS) schrieb er zum 12. Tag am 13.10.24 über ein Ereignis auf dem Petersplatz: „Eine Person, die sich weigerte, den Ausweis herzugeben, haben sie in Handschellen abgeführt.“ Man reibt sich die Augen. Behandelt der Vatikan Demonstrierende, die sich nicht ausweisen, wie Schwerkriminelle? Nach Recherchen in Rom ergibt sich folgendes:

Delegierte der internationalen Reformorganisation We Are Church hatten am selbigen Tag mit einem grossen Banner für „EQUALITY“ in der Kirche geworben. Dies geschah während der Ansprache des Papstes auf dem vollen Petersplatz. Auch viele andere Organisationen hatten grosse Banner gezeigt, in etwa 10 m Entfernung beispielsweise für „L´IMMACOLATA VINCERA“ (Jungfräulichkeit wird siegen). Dies ist auf der Übertragung des Angelus vom 13.10.24 deutlich zu sehen.

We Are Church-Banner unmittelbar vor der Untersagung durch die Polizei – im Hintergrund der Papst (kaum sichtbar) am Fenster über roter Fahne

Nur wenige Minuten danach trat die italienische Polizei auf den Plan, die nicht als solche erkennbar war. Sie forderte die Bannerträger zur Absenkung auf. Das geschah sofort, das Banner wurde eingefaltet und war nicht mehr sichtbar. Trotzdem wurde das Banner vorübergehend konfisziert und die Bannerträger zur Identifizierung aufgefordert. Wie man aus der italienischen Polizei hört, möchte der Vatikanstaat – anders als der liberalere italienische Staat gleich nebenan – der Personendaten aller Demonstranten habhaft haben, deren Meinung nicht willkommen ist. Alle anderen Banner auf dem Petersplatz und ihre Träger blieben unbehelligt und waren während der Papstworte weiter zu sehen.

Nach der Untersagung der Demonstration eskalierte die italienische Polizei nun die Situation auf dem Petersplatz. Er ist zwar vatikanisches Staatsgebiet, wird aber im Auftrag des Vatikan durch die italienische Polizei gesichert. Einer der Bannerträger verweigerte die Herausgabe des Personalausweises, weil er ihn gar nicht bei sich hatte. Nach einem kurzen Wortwechsel wurden ihm plötzlich und ohne Vorwarnung Handschellen auf dem Rücken angelegt; er wurde zur nahe gelegenen Vatikanwache der italienischen Polizei abgeführt. Eine Besucherin des Angelus-Gebetes wollte diese italienisch-vatikanische Polizeigewalt fotografieren; es war die Frau des Mannes, der gerade weggeführt wurde. Daraufhin wurde sie völlig überraschend ohne Ansprache oder Vorwarnung ebenfalls mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt und zur Vatikanwache abgeführt. Wie sich später zeigte, sollen mit solchen Gewaltmassnahmen Fotografien von Polizeieinsätzen auf dem Petersplatz beseitigt werden können.

Abführen einer Angelus-Besucherin in Handschellen, die polizeiliche Gewalt auf dem Petersplatz fotografieren wollte

4 Stunden nach dieser völlig unverhältnismässige Anwendung von Polizeigewalt kamen beide wieder frei, aber erst nachdem sie einer erkennungsdienstlichen Behandlung (Fotos, Abdrücke aller Finger) zugestimmt hatten. Beide haben eine Strafanzeige wegen Resistanza (Widerstand gegen die Staatsgewalt) zu erwarten, was angesichts der Geschehnisse absurd ist. Die Fotografien der Frau, die sie von der Demonstration und ihrer Auflösung gemacht hatte, mussten gelöscht werden; Fotos der Fesselung waren bei ihr nicht vorhanden.

Was hat das mit der Synode zu tun? Papst Franziskus brüstet sich damit, mit der Weltsynode ein neues Kapitel in der katholischen Kirche aufzuschlagen. Als drei wesentliche Fähigkeiten nannte er „begegnen, zuhören und unterscheiden“. Die Offenheit beim Sprechen und Zuhören soll zukünftig zur neuen Kirchenkultur gehören.

Auf dem Petersplatz wird diese Offenheit wie folgt umgesetzt: Der Sicherheitsdienst des Vatikan überwacht den Platz flächendeckend mit Kameras. Sind darauf Banner zu sehen, die dem Vatikan nicht genehm sind, werden sie zensiert. Dazu erhalten die auf dem Petersplatz anwesenden Beamten der italienischen Polizei über Sprechgeräte Anweisung, diese Banner abnehmen zu lassen. Damit wird gewährleistet, dass innerhalb von wenigen Minuten, mitunter Sekunden, missliebige Äusserungen von Kirchenangehörigen nicht mehr sichtbar sind, notfalls durchgesetzt mit Zwangsmitteln. Auffallend dabei ist: Meinungsäusserungen von Fundamentalisten scheinen erwünscht zu sein, die Meinungsfreiheit von Reformern wird eingeschränkt. Zensur oder Maulkorb wären treffende Bezeichnungen; man denkt an die Inquisition. Diese Unterdrückung von Meinungsfreiheit ist nicht neu; sie wird schon lange praktiziert, wie Klagen von Betroffenen seit den 90er Jahren zeigen.

Zweifel an der Aufrichtigkeit des Vatikans im Hinblick auf die freie Meinungsäusserung bestehen schon länger. So wurde der Wunsch etlicher Synoden-Teilnehmer sowie vieler Verbände (z.B. in einem Offenen Brief an den Papst) abgeblockt, über das mittlerweile in der ganzen katholischen Welt (nicht nur in Europa, wie die Kirche behauptet) virulente Thema des Frauenpriestertums auf der Synode zu sprechen. Und im Vorfeld des nun laufenden letzten Abschnitts wurde sogar das bisher auf der Synode besprochene Thema Frauendiakonat ausgeklammert – ein klarer Rückschritt.

Und so stellen sich am Ende viele Fragen: Ist das Propagieren einer neuen Offenheit wie dem synodalen „Zuhören“ aufrichtig gemeint? Oder wird Meinungsfreiheit in der Kirche noch immer nur im Rahmen der kirchlichen Lehre gewährleistet? Ist Gewaltanwendung gegen Kirchenmitglieder immer noch Teil kirchlicher Machtausübung? Fremdelt der Vatikan immer noch mit den Menschenrechten, die er erst 1963 in der Enzyklika pacem in terris widerwillig anerkannte? Entfernt sich die offizielle Kirche so nicht immer weiter von ihrem Kirchenvolk?

Nachtrag – Presseecho: