Das lange erwartete Schreiben des Vatikan zur Menschenwürde ist am 2.4.2024 erschienen: Dignitas infinita, die unendliche Menschenwürde. Aber die Überschrift täuscht, die Menschenwürde des Vatikan ist begrenzt und endlich, also finita. Das gilt vor allem für die Frauen. Wir werfen einen Blick auf das zugrunde liegende Frauenbild des Vatikan.

Jesus mit Samariterin am Brunnen, Wandbild in Öl, Alfons Alois Josef Reinhard, 1784, Kloster Engelberg/Schweiz (Treppenhaus)

Biblische Irritationen

Zu Beginn von Dignitatis infinita heisst es: „Jesus hat kulturelle und kultische Schranken niedergerissen und … denjenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen, ihre Würde zurückgegeben: den Zöllnern (vgl. Mt9,10-11), den Frauen (vgl. Joh 4,1-42), … den Aussätzigen (vgl. Mt 8,2-3), den Kranken (vgl. Mk 1,29-34)“ (DI Nr. 12, kursiv vom Autor). Die Einreihung der Frauen, also der Hälfte der Gesellschaft, in diese Aufzählung verwundert. Für den Vatikan stehen also Frauen „am Rande der Gesellschaft“. Auch Maria wäre also Angehörige einer Randgruppe gewesen. So sehen es zumindest der oberste Glaubenshüter und Autor des Schreibens, Kardinal Victor Manuel Fernandez, sowie Papst Franziskus, der dieses Schreiben ausdrücklich gebilligt hat.

Angesichts des Verweises auf die Bibel (Joh 4,1-42) könnte man meinen, dass der Vatikan damit nur die Sicht der Bibel auf die damalige, defizitäre Stellung der Frau in der Gesellschaft wiedergibt. Aber diese Sicht gibt die Bibel gar nicht her: In der zitierten Bibelstelle führt Jesus am Brunnen ein Gespräch mit einer Samariterin. Aber diese steht nicht am Rande der Gesellschaft, sondern vielmehr in deren Mitte. Denn das Volk der Samariter glaubte ihr, als sie ihre Christus-Erscheinung schilderte. Sie nahmen ihre Worte ernst: „Es glaubten aber an Christus viele … aus dieser Stadt um des Wortes der Frau willen (Joh 4,39)… Und sie sprachen zu der Frau: Nun glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben selber gehört und erkannt: Dieser ist wahrlich der Welt Heiland (Joh 4,42, kursiv vom Autor)“. Die Bibel war hinsichtlich der Stellung der Frau offensichtlich weiter, als es der Vatikan heute ist. Dort werden Frauen heute noch – anders als in der Bibel – ausdrücklich zu einer Randgruppe gezählt. Angesichts soviel Weltfremdheit und Gestrigkeit der beiden älteren argentischen Autoren reibt man sich die Augen. Man fragt sich, wer gehört denn hier zu einer Randgruppe? Und warum errichtet der Vatikan die „kulturellen und kultischen Schranken“ wieder, die Jesus eingerissen hat, indem er Frauen heute wieder zu einer Randgruppe zählt und damit macht?

Vatikanische Frauenwürde – mehr Schein als Sein

Das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit im heutigen gesellschaftlichen Umgang mit Frauen wird in Dignitatis infinita zu Recht kritisiert – u.a. mit einem Zitat von Papst Franziskus: „Die Gesellschaften auf der ganzen Erde [sind] noch lange nicht so organisiert, dass sie klar widerspiegeln, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer.“ (DI Nr. 44) Stimmt, aber leider ist auch diejenige Gesellschaft, die sich römisch-katholische Kirche nennt, noch nicht so organisiert, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Dies zeigt der Ausschluss der Frauen vom Weiheamt. Damit sind sie von wichtigen seelsorgerischen Tätigkeiten ebenso ausgeschlossen wie von zentralen Führungspositionen der Kirche. Der Selbstwiderspruch im Text ist so deutlich, dass er fast peinlich wirkt; er dürfte für viele Menschen die Glaubwürdigkeit der Kirche noch weiter ruinieren.

Der zitierte Papst Franziskus führt weiter aus: „Mit Worten behauptet man bestimmte Dinge, aber die Entscheidungen und die Wirklichkeit schreien eine andere Botschaft heraus“ (DI Nr. 44). In der Tat, die römische Wirklichkeit schreit eine andere Botschaft heraus mit der andauernden Diskriminierung der Frauen als die Worte von Dignitatis infinita. Sie lassen jegliche Selbstkritik vermissen. Andere für das zu kritisieren, was man selbst tut, das ist – zurückhaltend ausgedrückt – unehrlich. Manche nennen es auch Heuchelei.

Menschenwürde nur als Mutter

In dem zweifelhaften Versuch, die erst 1963 von Papst Johannes XXIII. in Pacem in terris anerkannten Menschenrechte auf Basis der Menschenwürde als kirchliche Errungenschaft und Tradition darzustellen, wird nun auch Papst Johannes Paul II. zitiert: „Es ist sicher noch viel zu tun, damit das Dasein als Frau und Mutter keine Diskriminierung beinhaltet.“ (DI Nr. 45). Spätestens mit dem deutlichen Hendiadyoin „Frau und Mutter“ (altgriechisch ἓν διὰ δυοῖν für ‚eins durch zwei‘) wird klar: Die Menschenwürde der Frau ist nicht unendlich, sondern hat Grenzen. Ihr Fokus liegt auf der Frau als Mutter. Der Einsatz gegen Diskriminierung gilt den Müttern, nicht Frauen in anderen Rollen. Damit wird die kirchliche Erwartung an die Lebenswegentscheidung der Frau deutlich. Sie baut Druck zur Mutterschaft auf. Damit wird ihre Freiheit als Teil der Menschenwürde nicht respektiert, sondern missachtet. Das 30 Jahre alte Zitat ist zugleich ein Schlag gegen alle Ordensfrauen, die für ihren Dienst in der Kirche auf die Mutterschaft verzichten.

Die Fortsetzung des päpstlichen Zitats bestätigt diese Annahme: „Es ist dringend geboten, überall die tatsächliche Gleichheit der Rechte der menschlichen Person zu erreichen, und das heißt gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Schutz der berufstätigen Mutter, gerechtes Vorankommen in der Berufslaufbahn, Gleichheit der Eheleute im Familienrecht und die Anerkennung von allem, was mit den Rechten und Pflichten des Staatsbürgers in einer Demokratie zusammenhängt“ (DI Nr. 45). Warum fehlt hier der Schutz der berufstätigen Frauen, die nicht Mütter sind? Warum werden Frauen ungleich behandelt?

Das anschliessende Verdikt von Fernandez „Ungleichheiten in diesen Bereichen sind verschiedene Formen von Gewalt“ (DI Nr. 45) ist zutreffend und stark. Aber es fällt auf die Kirche selbst zurück. Sie selbst übt mit der Ungleichheit von Frau und Mutter eine Form von Gewalt gegen Frauen aus, nämlich strukturelle Gewalt.

Fazit

Die Liste der Kritikpunkte an Dignitatis Infinita liesse sich vermehren – beispielsweise hinsichtlich der Kritik an der Leihmutterschaft (war Maria nicht selbst die Leihmutter Gottes?) und am Schwangerschaftsabbruch. Aber hier soll es nur um das Frauenbild des Vatikans im Jahr 2024 gehen, das hinter dem neuen römischen Dokument über die Menschenwürde steht.

Das Frauenbild kommt subtil, aber letztlich deutlich zum Ausdruck: Es ist ein rückwartsgewandtes Frauenbild, das der Schöpfung zuwiderläuft. Insbesondere der Rekurs auf Papst Johannes Paul II. zeigt, dass es leider keine Entwicklung zu einer Öffnung gibt. Die Rechtfertigung der eigenen, Frauen diskriminierenden Tradition steht über den christlichen Werten. Selbstkritik bleibt aus.

Auffallend – vielleicht sogar entlarvend – ist das Schweigen beim Bemühen, die eigene fortschrittliche Tradition nachzuweisen: Der wichtigste Papst auf dem Weg zur kirchlichen Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten, Papst Johannes XXIII., wird anders als seine Nachfolger nicht zitiert. Letztere sind mit frauenfeindlichen Äusserungen aufgefallen; hingegen hat Johannes XXIII. die Menschenrechte gegen innerkirchliche Widerstände anerkannt und gleiche Rechte für Frauen gefordert, nicht nur in der Ehe, sondern auch im geistlichen Leben (Raming, Rohn: Ordinatio Sacerdotalis – ein frauenfeindliches und fehlerhaftes Lehrschreiben von Papst Johannes Paul II., in: Imprimatur, Heft 4.2022 ).

Was Menschenwürde und -rechte der Frauen angeht, bleibt es in Dignitas Infinita bei leeren Worten. Ihr immanenter Selbstwiderspruch wird vor allem anti-evangelisierend wirken: Weiterhin dürften sich mehr und mehr Christinnen und Christen von der Kirche abwenden. Die Kirche, deren Vertrauen durch den Missbrauchsskandel stark gelitten hat, wird zunehmend nicht mehr ernst genommen. Damit verliert sie nicht nur an Mitgliedern, sondern auch ihre – gerade in diesen Zeiten – so wichtige christliche Prägekraft für die Zukunft unserer verwundeten Erde.

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