Recht ist nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit. Das alte ethische Problem des Verhältnisses zwischen Recht und Gerechtigkeit beschäftigte schon Cicero, der im 1. JH vor Christi Geburt befand: Summum ius summa iniuria, das gesamte Recht ist oft das höchste Unrecht. Gerade in Deutschland haben wir das in der jüngeren Geschichte mit dem Nationalsozialismus sehr schmerzhaft erfahren.

Was für das staatliche Recht gilt, gilt natürlich auch für das Kirchenrecht. Heute stellen viele Katholiken zunehmend Fragen nach der Gerechtigkeit des Kirchenrechts. Im Vordergrund steht die kirchenrechtliche Ungleichbehandlung der Frauen insbesondere durch Versagung der Priesterweihe, welche sie als Spenderinnen der Sakramente ausschliesst, oder durch das Verbot, während der Eucharistiefeier zu predigen, die Homilie zu halten.

Aber auch weitere Verbote wie die Untersagung der Segnung homosexueller Paare, der Kommunionspende an Wiederverheiratete oder nichtkatholische Christen sorgen für Zweifel an den kirchenrechtlichen Normen. Homosexuelle Partnerschaft, Verhütung, Abtreibung und Zölibat sind zusätzliche Reizthemen. So reiben sich viele Seelsorger und Lehrverantwortliche (im Kommunion- und Religionsunterricht, in der Predigt, in der Lehre an Hochschulen etc.) täglich an den Vorgaben des kirchlichen Lehramts auf.

Gerechtigkeit. Fresko von Raffael im Vatikan, 1508

Für Katholiken stellt sich daher immer häufiger und drängender die Frage: 1. Bindet mich das Kirchenrecht oder darf bzw. soll ich mich über Kirchenrecht hinwegsetzen, das ich für ungerecht erachte? 2. Anhand welcher Kriterien kann ich ermitteln, ob ich ein solches Kirchenrecht missachten darf?

1. Darf ich mich über Kirchenrecht hinweg setzen, das ich für ungerecht erachte?

Die moralphilosophischen und -theologischen Antworten auf die Frage verweisen auf das menschliche Gewissen als Entscheidungsinstanz. Mit der Anerkennung seiner Autonomie, die als Gewissensfreiheit bezeichnet wird, hat sich die katholische Kirche in ihrer autoritären Tradition lange schwergetan. Trotz der Befürwortung schon durch Thomas von Aquin hat sich erst das II. Vatikanum 1965 dazu durchgerungen, die Gewissensfreiheit grundsätzlich zu akzeptieren (Gaudium et spes Nr. 16).

Der Katechismus der katholischen Kirche von 1993 hat diese Lehre umgesetzt. Er betont, dass das Gewissen lebenslang anhand des Wortes Gottes gebildet und geformt werden muss, damit ein richtiges Urteil abgegeben werden kann (Nr. 1783-1785). Das Gewissen kann richtig urteilen, wenn es in Übereinstimmung mit der Vernunft und dem göttlichen Gesetz ist, oder irren, falls es sich an beides nicht hält (Nr. 1786). Der Mensch muss auch einem irrigen Gewissen folgen, wenn er sich um die rechte Gewissensbildung bemüht hat (Katechismus Nr. 1793).

Der entscheidende moraltheologische Meilenstein ist die Anerkennung des Irrtums. Damit wird ein Handeln im Dissens zur Obrigkeit nicht als unmoralisch verworfen, was natürlich Sanktionen wegen seiner Rechtswidrigkeit nicht ausschliesst. Der Irrtum kann allerdings auf zwei Seiten auftreten: Auf der Seite des Normadressaten, der dem Kirchenrecht folgen soll, oder auf Seiten des Normgebers, des kirchlichen Lehramtes. Schliesslich wird das Kirchenrecht, das mit Vernunft und göttlichem Recht übereinstimmen soll, auch nur von Menschen gesetzt, die fehlbar sind. Das zeigt die Kirchengeschichte, die viele Beispiele für Irrtümer des Lehramtes kennt. Die Bibel drückt dies so aus: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5, 29).

Im Ergebnis kann es also sehr wohl statthaft oder sogar geboten sein, gegen kirchenrechtliche Verbote zu verstossen. Aber das Gewissen ist kein Freifahrtschein für eine beliebige Normverweigerung. Vielmehr wird nicht nur die im Katechismus erwähnte Gewissensbildung vorausgesetzt, sondern auch eine gründliche Gewissensprüfung, bevor ich mich dem Kirchenrecht aus Gewissensgründen verweigere.

Auf eine solche Gewissensprüfung hat sich Luther berufen, als er den Widerruf seiner Lehre verweigerte (oft zitiert als „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“). Ähnlich hat sich Anfang 2021 Kardinal Woelki in Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal geäussert: „Ich habe mein Gewissen geprüft, und ich bin persönlich der Überzeugung, dass ich mich korrekt verhalten habe“.

2. Anhand welcher Kriterien kann ich ermitteln, ob ich Kirchenrecht aus Gewissensgründen missachten darf?

Ganz allgemein gehört zur Gewissensprüfung, bei der Entscheidung nicht nur auf sich selbst zu schauen, sondern vernunftgeleitet die objektive Perspektive der Mitmenschen und der Gemeinschaft einzunehmen. Aber was bedeutet das konkret? Die älteste eingehende Auseinandersetzung mit dieser Frage stammt von Platon und ist selbst nach über 2400 Jahren noch moralphilosophisch bedeutsam.

Platon lässt in seinem Dialog „Kriton“ den verurteilten Philosophen Sokrates darüber diskutieren, ob er aus der Haft fliehen oder das Todesurteil annehmen soll. Sokrates trifft seine Entscheidung, den Gesetzen zu folgen und in den Tod zu gehen, anhand dreier Kriterien. Erstens fragt er, ob sein Normverstoss nachteilige Folgen für die Gemeinschaft hätte, z.B. deren Zerrüttung oder Niedergang. Zweitens könnte seine Unbotmässigkeit gegen eine freiwilllig eingegangene Verpflichtung verstossen. Und Drittens könnte es unfair gegenüber der Gemeinschaft sein, das Gesetz zu brechen, weil man quasi als Trittbrettfahrer nur das persönlich Vorteilhafte mitnehmen möchte.

Bei Verstössen gegen das Kirchenrecht dürfte das dritte Kriterium grundsätzlich nicht einschlägig sein. Zwar wird beispielsweise beim Ringen um die Gleichstellung der Frauen diesen oft persönliches Machtstreben vorgeworfen. Aber dies greift zu kurz und scheint eine männliche Projektion zu sein: Denn den Frauen geht es um generelle Gerechtigkeit, nicht um persönliche Macht oder andere Vorteile.

Interessanter ist die Argumentation hinsichtlich des zweiten Kriteriums. Da die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche freiwillig ist, habe man ihren Regeln und damit auch dem Kirchenrecht zugestimmt, könnte man argumentieren. Andernfalls könne man ja gehen. „Werde doch evangelisch“, wird man belehrt. Doch so einfach ist es nicht. Ein Land, dessen Gesetze man verwirft, kann man verlassen. Aber seinen Glauben? Ist die Mitgliedschaft in der Kirche so verfüg- und wechselbar wie der Wohnort oder eine Vereinsmitgliedschaft? Nein, der Glaube ist persönlich unverfügbar und legt damit die daraus resultierende Glaubensgemeinschaft fest. Für viele gibt es keine alternative Gemeinschaft für ihren persönlichen Glauben. Das machen auch diejenigen Katholiken deutlich, die austreten und sagen: Ich bleibe katholisch, auch ohne diese Kirche.

Beim ersten Kriterium geht es um die schlechten Folgen für die Kirche durch eine mögliche Gesetzesmissachtung, z.B. der mögliche Verfall der kirchlichen Ordnung infolge des Ungehorsams. Dies ist ein ernster Einwand. Betrachten wir die Situation der katholischen Kirche in Deutschland. Zumindest hier leben wir in einer Zeit massenhafter Kirchenaustritte, die Folge nicht akzeptierter kirchenrechtlicher Normen sind. Das führt zu der Frage, ob nicht das Kirchenrecht selbst zur Zerrüttung der Kirche führt. Dann wären Zuwiderhandlungen eher positiv zu sehen: Sie würden das System stabilisieren, indem sie Austritte verminderten und zugleich den innersystemischen Anstoss gäben, das Kirchenrecht zu überdenken und zu korrigieren. Dann wären Zuwiderhandlungen nicht als schädlich, sondern als nützlich für die Kirche zu bewerten, weil sie die kirchliche Zerrüttung, den kirchlichen Zerfall minderten. Aber könnte dadurch nicht ein Spaltungsrisiko entstehen? Dagegen spricht, dass das Spaltungsrisiko bereits in der Ablehnung des Kirchenrechts als ungerecht angelegt ist. Der Ungehorsam wäre dann nur der besonders augenfällige Ausdruck für das bereits vorhandene Spaltungspotential und würde selbst nicht weiter zur Zerrüttung der Kirche beitragen.

Summa summarum: Ja, Ungehorsam kann eine Christenpflicht sein. Aber er erfordert möglicherweise Mut, da er mit negativen persönlichen Konsequenzen verbunden sein kann. Das ist der Preis der Gewissensfreiheit.

Nachtrag: Auch Papst Franziskus sieht das so – in den Vaticannews vom 10.11.2022.

Die Kirche habe keine „Vollmacht“, homosexuelle Paare zu segnen, hat die vatikanische Glaubenskongregation am 15.3.2021 verkündet. Diese Entscheidung sei auch von Papst Franziskus „gutgeheißen“ worden.

Wer die vatikanischen Weigerungen kennt, die Zeichen der Zeit zu (be)achten, wird sich erinnern: Schon bei der Absage an die Frauenweihe wurde diese Formulierung gebraucht, 1994 von Papst Johannes Paul II. in Ordinatio sacerdotalis. Tenor: Es ist uns nicht möglich, darüber zu befinden. Dazu sind wir nicht befugt.

Was natürlich Unsinn ist. Warum? Es ist eine Leerformal, ohne Inhalt. Denn diese normative Aussage ist selbstreferentiell. Wer die Befugnis besitzt, sich selbst eine Befugnis abzusprechen, besitzt natürlich auch die Befugnis, sich eine Befugnis zuzuschreiben. Das kann man jederzeit tun. Die Bedeutung dieser Aussage ist daher schlicht: Ich will nicht.

Petersdom mit Regenbogenfahnen

Was bleibt? Eine vordergründig starke Geste. Leider scheint das ein Muster zu sein. Wenn die Argumente fehlen, wenn die theologische Position ohne Überzeugungskraft ist, versteckt sich die Kirche hinter ihrer selbstdefinierten Unzuständigkeit. Selbst wenn sie wollen würde, könnte sie ja nicht.

Blockade-Politik des Vatikan

Dies ist nicht nur eine subtile Form einer autoritären Basta-Theologie. Es ist zugleich auch eine Flucht in die Sprachlosigkeit. Sie wirkt hilflos gegenüber einer Wirklichkeit, der man nicht mehr gewachsen zu sein scheint. Der Vatikan steht gegenüber der Realität mit leeren Händen da, weltfremd und ohne positive Botschaft. Er sendet mit seinen Worten unbewusste Zeichen der Kapitulation vor Diskussionen und Reformen.  

Vermutlich glaubt der Vatikan, auf diese Weise die Diskussionen beenden zu können. Aber er erreicht das Gegenteil. Zum einen weil derjenige, der das Gespräch verweigert, nicht verbindet, sondern spaltet. Dies bildet immer einen Ansporn für Gegner. Zum andern weil seine Gegner die vatikanische Sprach- und Hilfslosigkeit spüren und daher die Chance sehen, mit ihrem Anliegen Erfolg zu haben.

Dies ist die gute Botschaft. Eine Kirche, die nichts Besseres weiss, als Argumente durch Autorität zu ersetzen, wird den Widerstand erst recht anfachen. Denn er richtet sich gegen eine spürbare Schwäche und scheint daher erfolgversprechend zu sein.

Widerstand der Bischöfe

Genau dies tritt nun ein: Eine umfassende Welle der Solidarität mit den Homosexuellen baut sich auf, die vom Vatikan nicht mehr aufzuhalten sein wird. Deutsche Bischöfe kritisieren das Verbot der Segnung homosexueller Partnerschaften (Bischof Dieser) oder fordern eine Neubewertung der Homosexualität (Bischof Overbeck). Bischöfe anderer Länder werden sich anschliessen, die belgische Bischofskonferenz hat am 19.3.2021 den Anfang gemacht.

Die Bischöfe können sich dabei auf ihr Gewissen berufen. Um mit den Worten von Kardinal Woelki zu sprechen: „Ich habe mein Gewissen geprüft, und ich bin persönlich der Überzeugung, dass ich mich korrekt verhalten habe“. Natürlich können sich auch alle Priester auf ihr Gewissen berufen, die weiterhin homosexuelle Paare segnen. Sie dürften dabei mit der Billigung vieler Bischöfe rechnen können.

Was die Traditionalisten angeht, die den Menschen als Gottes Schöpfung und Ebenbild immer noch nicht verstehen, können wir eine Fürbitte in die Kirchen tragen:

Gott hat den Menschen die Liebe geschenkt. Die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe zwischen Frau und Frau und die Liebe zwischen Mann und Mann. Herr, wir bitten für diejenigen, die daran zweifeln. Möge der heilige Geist sie erleuchten.

„Gerechtigkeit ist nicht alles, aber ohne Gerechtigkeit ist alles nichts“,

…könnte man in Abwandlung eines bekannten Politiker-Wortes sagen. Dies gilt nicht nur für den Staat, sondern erst recht auch für die Kirche. Denn die Gerechtigkeit ist das zentrale Anliegen von Gottes Heilsversprechen, und damit des Christentums. Nicht ohne Grund stellt die Gerechtigkeit das Bindeglied zwischen dem irdischen Leben und dem ewigen Leben dar – in Form des jüngsten Gerichts, das Jesus selbst abhält. 

Hans Memling: Das jüngste Gericht (um 1470), Nationalmuseum Danzig

Aus dem Eingangssatz folgt: Gerechtigkeit ist die notwendige Bedingung für ein gelingendes kirchliches Leben, die conditio sine qua non. Aber sie ist keine hinreichende Bedingung. Es muss etwas dazu kommen wie beispielsweise eine erfolgreiche (Neu-) Evangelisierung. Ohne die Gerechtigkeit als Basis kann die Evangelisierung keinen Erfolg haben. Eine Kirche ohne umfassende, also auch innere Gerechtigkeit wäre daher auf Sand gebaut. Sie würde letztlich in sich zusammenfallen. Angesichts der – zunehmend als schmerzhaft empfundenen – Frauendiskriminierung innerhalb der Kirche erfahren wir gerade die Vorboten dieses kirchlichen Zusammenbruchs.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick in die Enzyklika Fratelli Tutti, die Papst Franziskus im Oktober 2020 veröffentlicht hat. In ihr analysiert er klar die sozialen Missstände der heutigen Welt. So schreibt er, »wenn man unsere gegenwärtigen Gesellschaften (also auch: die gegenwärtige Kirche) aufmerksam beobachtet, entdeckt man in der Tat zahlreiche Widersprüche, aufgrund derer wir uns fragen, ob die Gleichheit an Würde aller Menschen, die vor nunmehr 70 Jahren feierlich verkündet wurde, wirklich unter allen Umständen anerkannt, geachtet, geschützt und gefördert wird. Es gibt heute in der Welt (auch: in der Kirche) weiterhin zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit, genährt von verkürzten anthropologischen Sichtweisen“ (FT Nr. 22). Und weiter: „Entsprechend sind die Gesellschaften (auch: die Kirche) auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert, dass sie klar widerspiegeln, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer“ (FT Nr. 23).

Wieso sieht der Papst klarsichtig die Defizite ausserhalb der Kirche, aber nicht ihre inneren Mängel? Wie kann man der Welt den Spiegel vorhalten, ohne selbst hinein zu sehen? Papst Franziskus scheint durch kirchliche Traditionen wie den Ausschluss der Frauen vom Priesteramt geradezu betriebsblind geworden zu sein. Sein Gesichtfeld wirkt so eingeschränkt, dass er nicht sieht, dass die Kirche selbst das tut, was sie anderen – z.B. in Fratelli Tutti – vorwirft: die Verletzung der Menschenwürde und „zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit“.

Und damit scheint er auch nicht zu erkennen, wie sehr die ungerecht Behandelten, die Frauen, darunter leiden. Vielfach täglich, ein ganzes Leben lang. Dabei wäre jeder Einzelfall vermeidbar. Und um die Zukunft der Kirche würde es besser stehen.

Unsere Zeit ist geprägt von der Suche nach einem Weg in die Zukunft. Gerade auch in der Kirche. Aber ihre Hirten stehen in diesen stürmischen Zeiten teilweise ratlos am Rande der Herde.

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Anton Braith, Hirte mit Schafherde bei aufziehendem Gewitter (1873)

Ihr Selbstverständnis ist zwar: Der Hirte geht voran. Aber entspricht das dem biblischen Bild des guten Hirten? Papst Franziskus scheint dies jedenfalls anders zu sehen (Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium vom 24.11.2013 Nr. 31). Nach seiner Auffassung folgt ein guter Hirte seiner Herde mal am Ende des Zuges, mal hält er sich mitten in der Herde auf. Ein guter Hirte weiss, wann er voranzugehen hat und wann er dies nicht zu tun hat. Dann lässt er die Herde selbst ihren Weg gehen und finden.

Dies erfordert vom guter Hirten Demut, um dem Weiterziehen der Herde nicht im Wege stehen. Wer die Schafe als diejenigen sieht, die stets gefügig dem Hirten zu folgen haben, hat ein zweifelhaftes Amtsverständnis. Leider erleben wir dieses heute bei einigen Bischöfen, die den Synodalen Weg wegen der Laienbeteiligung grundsätzlich kritisieren und auf die Hierarchie pochen. Dieses Hirtenbild stimmt mit demjenigen des Papstes und der Bibel nicht überein.

Dominus pascit, lautet es im Psalm 22 (23) Vers 1 der lateinischen Vulgata, non regit. Er weidet die Herde, er regiert sie nicht. Das entspricht genau der Wortwahl der griechischen Septuaginta: ποιμαίνει. Dies bedeutet, das der gute Hirte sich nach den Bedürfnissen der Herde richtet. Ihr soll es an nichts mangeln. Dazu gehört auch die Unterweisung der Unkundigen. Soweit sie aufgrund ihrer Unkundigkeit bedürftig sind. Denn der gute Hirte handelt rein altruistisch. Er herrscht nicht im eigenen Interesse.

Dies gilt um so mehr, wenn man die Zeichen der Zeit richtig liesst. Früher mag der unbedingte Führungsanspruch der Hirten durch ihren Bildungsvorsprung gerechtfertigt gewesen sein. Wer sonst konnte das Wort Gottes lesen und verstehen. Heute hat die Herde diesbezüglich gleichgezogen. Es gibt kein Bildungsdefizit der Laien gegenüber dem Klerus und auch den Bischöfen mehr.

Im Gegenteil, heute hat sich das Bildungsgefälle umgekehrt. Die Laien sind dem Klerus mittlerweile bildungsmässig überlegen. Der Klerus fällt ihnen gegenüber ab. Schliesslich hat er die Hälfte seiner Talente vergraben. Er verzichtet auf dieses Potential, weil er die Frauen ausgeschlossen hat. Unzureichendes Mittelmass ist die Folge dieser 100-prozentigen Männerquote, auch im Episkopat. Das führt spürbar zum Versagen der Hirten bei Antworten auf drängende Fragen. Wir erleben es immer wieder schmerzlich, bis hinauf nach Rom.

Daher gilt: Da die Hirten ratlos am Rande stehen, muss die Herde jetzt vorangehen. Es geht um die Zukunft der Kirche, nicht der Hirten.

Den Aufschlag machte Anne Soupa, die sich im März 2020 als Erzbischöfin von Lyon beworben hat (s. Blogbeitrag: Erste Frauenbewerbung um katholisches Bischofsamt). Am 22.7.2020 haben sich demonstrativ weitere Frauen der Initiative Toutes apôtres! (Alle Apostel!) auf Weiheämter der katholischen Kirche in Frankreich beworben. Das Bewerbungs-Spektrum reicht vom Diakonat bis zum Episcopat (Bischofsamt).

In Frankreich erzielte die Initiative eine überaus große Öffentlichkeitswirkung. Sie veranlasste den apostolischen Nuntius in Frankreich, Erzbischof Celestino Migliore, 7 von ihnen zu Einzelgesprächen einzuladen. Die etwa einstündigen Gespräche haben nun bis zum 2.10.2020 stattgefunden, offenbar in freundlicher Atmosphäre.

Der Nuntius habe sie höflich angehört, war die anschliessende Reaktion der Bewerberinnen. Die Theologie-Doktorandin Sylvaine Landrivon, eine Bewerberin um das Bischofsamt, berichtete von einem „wohlwollenden Zuhören“ und vom „Einfühlungsvermögen“ Migliores. Aber er habe betont, dass eine „Klerikalisierung von Frauen nicht die Lösung“ sei. Jedoch habe er selbst keine „Lösungen für den Kampf gegen den Klerikalismus“ skizziert. Eine weitere Reaktion auf die Bewerbungen ist bisher nicht bekannt geworden.

Am 17.9.2020 veröffentlichte domradio.de in Köln ein Interview mit dem Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki. Darin sagte er zur Diskussion um die Frauenweihe: „…ich kann sie (die Diskussion) nicht so behandeln als sei die Frage offen. Dann findet die Diskussion außerhalb der Lehre der Kirche statt.“

Was bedeutet „ausserhalb der Lehre“? Meint es rein beschreibend, dass die Befürworter der Frauenweihe eine von der Lehre abweichende Meinung haben? Das wäre trivial. Also muss mehr dahinter stehen, vielleicht ein normativer Impetus? Dann enthielte das Woelki-Wort ein Verdikt, das etwas abschneiden möchte, nämlich die Diskussion. Wer ausserhalb der Lehre steht, steht ausserhalb der Kirche. Diese Interpretation würde zu den vorherigen Äusserungen des Kardinals passen.

Was hätte dies zur Konsequenz? Jeder der nicht die bestehende Lehre, sondern eine mögliche zukünftige Lehre der Kirche thematisiert, wird bestenfalls nicht beachtet. Vielleicht aber auch mundtot gemacht oder zensiert. Das wäre die schmerzhafte individuelle Konsequenz – für jeden Befürworter der Frauenweihe und anderer umfassender Reformen.

Aber es gäbe auch eine Konsequenz für die Kirche und zwar eine bittere: In der langen Geschichte der Kirche hat sich ihre Lehre ständig fortentwickelt, hat auf die Zeichen der Zeit reagiert, stand nicht still. Sie ist bis heute dynamisch und nicht statisch. Nicht primär weil das Lehramt sich selbst korrigierte, sondern weil es von aussen dazu angestossen wurde. Durch abweichende Meinungen, die einmal „ausserhalb der Lehre“ standen. Diese sollen zukünftig unterbleiben oder unbeachtet bleiben.

Folgte man Kardinal Woelki, so würde nach 2000 Jahren kirchlicher Fortentwicklung – mit zum Teil schmerzhaften Reformen – die aktuelle Lehre petrifiziert werden und auf Dauer Stand der Dinge bleiben. Die Lehre verharrt im status quo 2020 und die Welt dreht sich weiter?

Das wäre absurd. Das „lebendige Lehramt“, auf das die Kirche selbst im konservativen Schreiben Ordinatio sacerdotalis stolz verweist, wäre tot, bewegungslos. Aus Lehre würde Leere. Kirche und Welt würden sich voneinander entfernen und entfremden. Letztlich würde die Kirche aus der Welt fallen, ja aus ihr verschwinden. Kaum ein teuflischerer Plan ist vorstellbar, um die Kirche von innen her zu zerstören.

Aber so wird es nicht kommen. Die Kraft des heiligen Geistes zeigt Wirkung. Die zunehmende Welle der Reformwilligen steuert das Schiff der Kirche engagiert in die Zukunft. Sie verstehen Christus und folgen ihm. Der Kardinal mag weiter gegen den anschwellenden Strom der Erneuerung schwimmen. Aber er wird sich dabei immer mehr verausgaben. Am Ende wird er völlig erschöpft sein und in den Fluten untergehen. Zurück wird nur die Erinnerung bleiben an eine – trotz grosser Verdienste – tragische Figur des deutschen Katholizismus: Einer, der sich auf den Pastoralen Zukunftsweg machte, aber sich der Zukunft verweigerte. Wir sind die Zeugen – nos sumus testes.

Wer – wie die Mitarbeiter internationaler kirchlicher Hilfswerke – die Kirche in anderen Ländern bereist, kennt diese Stimmen. Sie wünschen, dass die fortdauernde Diskriminierung der Frauen innerhalb ihrer katholischen Kirche endlich beendet wird. Die Reformhoffnungen richten sich teilweise auf kleine Schritte, teilweise auf den grossen Wurf: die Einführung des Frauenpriestertums in der katholischen Kirche. Sehr oft sind es nicht nur einfache Kirchenmitglieder, sondern engagierte Ordensangehörige und Priester, die sich dem Reisenden – teilweise vertraulich – mitteilen. Das Spektrum der Regionen ist breit: Indien, Asien, Südamerika, ja auch Osteuropa. Es sind weit mehr Aktive und kirchliche Amtsträger, als öffentlich bekannt wird. Sie stammen gerade auch aus Ländern, in denen die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frauen nicht so weit entwickelt ist wie in Europa. In ihnen sind Frauen häufig immer noch Menschen zweiter Klasse.

Vielfach spielt es dabei eine Rolle, dass man aus Deutschland kommt. Aus einem Land, dessen Kirche als Vorreiter für innerkirchliche Gerechtigkeit angesehen wird. Dies gilt insbesondere, nachdem in Deutschland der Synodale Weg begonnen hat. Ihm kommt daher nicht nur Bedeutung und Verantwortung für die deutsche Kirche, sondern auch für die Weltkirche zu. Viele Hoffnungen in anderen Weltregionen richten sich auf den deutschen Reformprozess. Diese dürfen durch die Beschlüsse des Synodalen Weges nicht enttäuscht werden. Das mutige Einfordern von grundlegenden kirchlichen Reformen in der Frauenfrage durch die Katholiken in Deutschland ist daher auch ein Dienst an der Weltkirche und an den benachteiligten Frauen in vielen Ländern.

Auch hinter Klostermauern ist die Diskriminierung wegen des Geschlechts ein aktuelles Thema. Leider kaum in Männerklöstern, aber zunehmend in Frauenklöstern. So fordern die Benediktinerinnen von Fahr, des 1130 gegründeten Frauenkonvents des Männerklosters Einsiedeln in der Schweiz, tiefgreifende kirchliche Reformen. Selbstbewusst rufen sie seit 2019 zum „Gebet am Donnerstag“ auf, bei dem wöchentlich mit deutlichen Worten für die Gleichstellung von Frauen in der Kirche gebetet wird.

Gechlechtergerechte Texte gab es aber auch schon zuvor im benediktinischen Leben. Die Regel des Benedikt aus dem 6. JH enthält im Prolog die berühmten Eingangsworte „Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters“.

Anders lauten die Übersetzungen des lateinischen Urtextes in den ältesten Schweizer Handschriften der Regula Benedikti. Sie nutzen die Anrede „liebes Kind“ („liebs chint“) und damit eine gechlechtergerechte Formulierung (Stiftsbibliothek St. Gallen Codices 914 und 916 (9. Jh.), Stiftsbibliothek Engelberg Codex 72 (13. Jh., hier abgebildet) und Codex 301 (15. Jh.)). Diese Anrede spricht damit nicht nur die Mönche, sondern auch die Nonnen an, die etwa 2/3 der benediktinischen Bewegung ausmachen. Und das schon seit dem 9. Jahrhundert.

So gut wie jeder Taxifahrer in Köln kennt sie oder weiss zumindest, wo sie steht: die schwarze Muttergottes. Viele Menschen mit schwarzer Hautfarbe, vielfach südamerikanische Touristen oder amerikanische Soldaten, lassen sich vom Bahnhof zu ihr bringen. Nur um diese „Mutter der Barmherzigkeit“ zu besuchen. Der Taxifahrer fährt dann zu einer der wenigen barocken Kirchen in Köln, zu St. Maria in der Kupfergasse. Dort steht in der sog. Loretokapelle Maria mit dem Jesuskind im Arm, beide mit eindeutig schwarzer Hautfarbe.

Die schwarze Mariendarstellung von ca. 1630 wurde in der 1675 geweihten Loretokapelle aufgestellt. Sie erfreute sich zunehmender und überregionaler Verehrung durch Wallfahrer. So wurde etwa 40 Jahre später eine barocke Kirche um diese Kapelle herum gebaut. Bis heute ist der Zuspruch für das Gnadenbild ungebrochen: Wöchentlich werden 5000 Opferkerzen zu ihren Füssen aufgestellt.


Nicht nur in Deutschland ist das Engagement für die Frauenweihe gross und weiter zunehmend. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es entsprechende Initiativen, beispielsweise in Frankreich. Dort ist seit dem missbrauchsbedingen Rücktritt von Kardinal Philippe Barbarin im März 2020 der Erzbischofsitz in Lyon unbesetzt. Seit 25.5.2020 bewirbt sich dort eine Frau als neue Erzbischöfin, die katholische Theologin Anne Soupa.

Sie ist als Bibelforscherin und Journalistin bekannt und im französischen Gegenstück zu Maria 2.0 als Präsidenten aktiv, dem Comité de la Jupe, (https://www.comitedelajupe.fr/ – Jupe ist französisch für Rock). Die Bewerbung wird durch eine online-Petition an Papst Franziskus unterstützt (https://www.pourannesoupa.fr/ ).

In der Begründung führt Anne Soupa u.a. aus, dass der Ausschluss der Hälfte der Menschen von der Weihe (Ordination) gegen die Botschaft von Jesus Christus verstosse. Zugleich sei der Frauenausschluss für die Kirche schädlich. Sie weist darauf hin, dass alle 4 letzten Amtsinhaber ihre Hauptaufgabe verfehlt hätten: Anstelle die Gemeinschaft der Gläubigen zu schützen, hätten sie „die Wölfe in die Herde“ eindringen lassen. Diese „Raubtiere“ hätten dann den Kleinsten nachgestellt.

Sie ist sich bewusst, dass die Bewerbung möglicherweise gegen dass Kirchenrecht verstösst. Aber sie weist darauf hin, dass die Bischöfe in der Anfangszeit der Kirche ebenso wie die 12 Apostel eine Leitungsfunktion innegehabt hätten und keine Priester gewesen seien. Und Papst Franziskus habe deutlich gemacht, dass diese Funktionen unterschieden werden müssten, um mehr Platz für Frauen in der Kirche zu machen. Dieser Ruf des Papstes sei seit 7 Jahren ungehört geblieben.